Interview mit Alexis Weil, Gründer & CEO seniors@work
AIAS: Wie erlebst du Menschen über 60 in den realen Begegnungen im Vergleich zu den dominierenden Vorstellungen in der Gesellschaft? Stimmt das dominierende Bild von älteren Menschen mit deinen Erfahrungen überein?
Alexis Weil: Keineswegs! Die älteren Menschen, mit denen ich zu tun habe, sind in der Regel zwischen 60 und 75 Jahre alt und fit, aktiv und dynamisch. Leider ist in unserer Gesellschaft heutzutage immer noch das Vorurteil verbreitet, dass alle Pensionäre – egal ob 65 oder 95 – alt und gebrechlich sind, mit dem Rollator daherkommen und nicht mehr offen und lernbereit sind. Dabei gibt es riesige Unterschiede in dieser grossen Gruppe der über 60-Jährigen! Man sagt oft, «60 ist das neue 40», und das erlebe ich auch so – vor 30 Jahren war jemand mit 60 schon deutlich älter als es heute der Fall ist. Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass das Rentenalter in der Schweiz seit den 1950er Jahren stabil bei rund 65 Jahren geblieben ist, die Lebenserwartung ist aber um mehr als 15 Jahre angestiegen. Es ist also ein neuer Lebensabschnitt entstanden, in dem die Leute eindeutig noch jung genug sind, um beruflich, gesellschaftlich, oder als Kunden noch aktiv zu sein. Es ärgert mich immer, wenn Pensionäre praktisch von einem Tag auf den anderen «zum alten Eisen» gehören sollen.
AIAS: Wo siehst du wichtigen Handlungsbedarf für Menschen zwischen 55 und 75 Jahren? Was sind die Anliegen und Bedürfnisse dieser Menschen?
Alexis Weil: Anders als früher sind Leute zwischen 55 und 75 sowohl körperlich als auch geistig noch sehr fit. Viele kommen aus anspruchsvollen Karrieren, haben jahrzehntelang viel geleistet und würden in ein riesiges Loch fallen, wenn sie plötzlich gar keine berufliche Betätigung mehr haben. Ganz klar, die Allermeisten möchten den Lebensabschnitt nach der Pensionierung auch geniessen, deshalb sucht kaum jemand mehr eine Vollzeitstelle. Aber wir haben Tausende von Mitgliedern, die eine Teilzeitstelle oder Aufträge auf Projektbasis suchen, so dass sie einen guten Ausgleich zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit hinbekommen. Sie wollen weiterhin Ihrer Passion nachgehen und Ihr Wissen weitergeben, und es ist unglaublich schade, dass unsere Gesellschaft das immense Potenzial der älteren Generation bisher so links liegen lässt.
Denn es ist heute noch sehr schwer für die Älteren, passende Stellen zu finden. Das war ja auch der Grund, warum ich seniors@work gegründet habe. Mein Vater wollte nämlich nach seiner Pensionierung weiterarbeiten, aber es gab keine passenden Angebote – und dass, obwohl die Unternehmen über Fachkräftemangel klagen. Unser Ziel bei seniors@work ist daher, pensionierte Menschen mit Unternehmen zusammen zu bringen, und für die Pensionäre die Jobsuche einfacher und effizienter zu gestalten.
AIAS: Welche Rolle spielt das Alter heute, was sind deine Erfahrungen?
Alexis Weil: Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Generationen, und das ist auch gut so. Ich finde, wir können alle von der Vielfalt profitieren, die wir in einer Gesellschaft haben, in der man von jung bis alt miteinander arbeitet und aufeinander schaut. Tik-tok, Künstliche Intelligenz und Web-Development sind ganz klar Bereiche, in denen die Jungen den Alten etwas voraushaben. Dafür haben die senioreren Menschen einen Schatz an Lebenserfahrung, Fachkenntnissen und Netzwerke, die viel wert sind – da können die Jungen nicht mithalten. Dass die Älteren im Fitnessstudio in der Regel nicht ganz mit den Jüngeren mithalten können, ist ein Fakt – aber wer arbeitet im Dienstleistungsland Schweiz denn noch körperlich? Wir wählen auch die Jüngeren nicht danach aus, wie schnell sie einen Marathon rennen können… auf die geistige Fitness kommt es an! Und da sind die Leute, die sich bei uns registrieren, noch ganz vorne mit dabei. Daher möchte ich dazu beitragen, dass wir irgendwann in einer Gesellschaft leben, in der das Alter nur noch eine Zahl ist. Und in dem generationenübergreifenden Arbeiten die Regel ist.
AIAS: Du bist mit Deinem Unternehmen im Bereich Erwerbstätigkeit für Menschen über 60 tätig. Wo liegen die Herausforderungen? Wo siehst du Chancen?
Kurzfristig haben wir eine ganze Reihe von Herausforderungen bei der Vermittlung von pensionierten Fachkräften an Unternehmen, denn wir müssen bei den Auftraggebern noch einiges an Aufklärungsarbeit leisten. Nur ein Bruchteil der Unternehmen denkt im Moment daran, den Fachkräftemangel und die «Arbeiterlosigkeit» durch den Einsatz von motivierten und engagierten Menschen zwischen 60 und 75 zu decken. Bis das zur Norm wird, braucht es noch Geduld und einen langen Atem wird, und das Umfeld muss sich auch ändern, so dass es viel mehr Teilzeit- und Projektstellen sowie Jobsharing gibt.
Diese Herausforderungen sind aber gleichzeitig auch die grossen Chancen für uns. Denn mit den Babyboomern, die in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen, wird es für Unternehmen in Zukunft immer schwerer werden, passende Kandidaten zu finden. Bis 2030 werden in der Schweiz 500´000 Fachkräfte fehlen! Das heisst, ein Umdenken in Wirtschaft und Politik ist unumgänglich, sonst sieht es schlecht aus für den Wirtschaftsstandort Schweiz!
AIAS: Was ist Deiner Meinung nach besonders wichtig im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung einer zunehmend alternden Bevölkerung?
Alexis Weil: Das Thema der alternden Bevölkerung geht weit über «Arbeiten im Alter» hinaus! Dadurch, dass die älteren Menschen nach der Pensionierung ja noch rund 25 Jahre vor sich haben und viel fitter, aktiver und auch kaufkräftiger sind als früher, entsteht eine ganz neue gesellschaftliche Gruppe. Neben potenziellen Arbeitskräften sind sie in erster Linie auch Kunden von Produkten aller Art, Leute, die am sozialen Leben aktiv teilnehmen, beispielsweise auf der Suche nach Freunden oder Partnern, Leute, die sich – Stichwort «Lifelong Learning» – weiterbilden, und vieles mehr. Dieser Aspekt wird heute noch komplett vernachlässigt. Dabei gibt es so viele Ansatzpunkte: Beispielsweise braucht es telefonischen Kundenservice und -support und Verkaufspersonal, das speziell auf ältere Kunden ausgerichtet ist. Und da kommunizieren die Mittsechziger viel besser mit den über siebzigjährigen Kunden als die Mittzwanziger. Gleiches gilt auch für Pflege im hohen Alter, und für soziale Communities von älteren Menschen für gemeinsame Freizeitaktivitäten, Lernen, oder Wohnen.